Heute:
Christian Dickinger zum Tod von Günter Grass
Liebe Leserleins!
Einer der bedeutendsten – wenn nicht der bedeutendste – deutschsprachige Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg ist von uns gegangen. Angesichts seiner lebenslangen Nähe zur Sozialdemokratie war es für uns logisch, Christian Dickinger, Gmundner SP-Stadtchef und Vizebürgermeister, selbst Bestseller-Autor und leidenschaftlicher Schriftsteller, um eine Würdigung zu ersuchen. Er hat einen respektvollen Nachruf geschrieben, der der vielschichtigen Persönlichkeit von Grass gerecht wird, indem er Licht- und Schattenseiten einer widersprüchlichen Persönlichkeit beschreibt, die sich aber in ihrem Engagement nie beirren hat lassen. Lesen Sie diesen Nachruf, der selbst ein Stück eminenter Literatur ist. Nachrufe sagen auch immer etwas über die Person der Nachrufenden aus. Lassen Sie sich also von Seiten Dickingers überraschen, die Sie bisher vielleicht nicht wahr genommen haben.
Babsy Blitzschnell f. d. Team Gmundl
„Ich hab das Maul aufgemacht!“
Zum Tode des letzten deutschen „Großschriftstellers“ Günter Grass.
Von Christian Dickinger
Alexander Kluge notierte über Grass, dieser sei „ein Findlingsblock. Wo er hingerollt ist, wird es nichts Zweites geben“. Grass, geboren 1927 in Danzig, hatte zunächst das Handwerk des Steinmetzes erlernt, danach studierte er Grafik und Bildhauerei. Sich selbst verortete er, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde, immer wieder in strenger Reihenfolge. Er sei „Bildhauer, Grafiker und Schriftsteller“.
Bevor Grass mit der Tastatur seiner Schreibmaschine (zuvor pflegte er mit der Feder zu skizzieren) ebenso wütend wie wirkungsmächtig in die deutsche Geschichte trommelte, wuchtete er seine Erfahrungen „aus der wirklichen Welt“ mit beiden Händen, nach Kriegsende in einem Bergwerk. Der Schriftsteller Grass mühte sich im Steinbruch des realen gesellschaftlichen Seins ab, er griff nicht nach den Wolken der Theorie. Seine politische Orientierung, welche ihm erst allmählich zuwuchs, orientierte sich gebieterisch an der „Praxis“.
Germanisten und Kritiker sind sich wohl nicht eins, ob Grass tatsächlich ein „politischer Autor“ gewesen sei, er sei jedoch ein Schriftsteller gewesen, so hieß es jüngst in der „Zeit“, „der sich auch auf Kosten seines Werks in die Politik hineinbegab“. Einigkeit herrscht freilich darüber, dass seine frühen Romane, die seinen Weltruhm begründet haben, „bleiben werden“, das „mittlere“ und „spätere“ Schaffen eher nicht.
Das politische Engagement von Grass, dessen links-liberalen Präferenzen, nahmen viel Zeit und Energie in Anspruch. Seine politische Publizistik steht, in Summe und Zahl, seinen Romanen, Gedichten und Erzählungen um nichts nach. „Setz Dich auf Deinen Arsch und schreib wieder ein Buch, statt Deinen Namen unter tausend Manifeste“, rotzte ihn der notorisch eitle „Großkritiker“ Fritz J. Raddatz, der ebenfalls vor kurzer Zeit verstorben ist, einmal an. „Das im literarischen Feld gewonnene Prestige setzte er in der Politik ein“, bemerkte Roman Bucheli, „… und das Politische floss fortan eher als die Poesie des Gestaltens in seine Prosa. Er antizipierte nun weniger den Geist der Zeit, als dass er ihm sekundierte“.
Grass engagierte sich in mehreren Wahlkämpfen für die SPD-Ikone Willy Brandt, der „mehr Demokratie wagen“ wollte, eine neue „Ostpolitik“ begründete und die Aussöhnung mit Polen, dem geschundenen Nachbarn, propagierte. Als Brandt 1961 eine Schriftsteller-Runde mit der Frage überraschte, wer geneigt sei, für ihn Reden zu schreiben (dies gab’s noch in den Zeiten von Brandt, Kreisky und Palme), sprang lediglich Grass seiner zeitweiligen „Vaterfigur“ zur Seite: „Ich, der Bürgerschreck, war der Einzige, der den Finger hob!“ Dass „Willy“ ihn nach seiner Kür zum Kanzler nicht zu „höheren Weihen“ in der Politik berief, kränkte den Schriftsteller, dem die Untugend der Eitelkeit natürlich nicht fremd war. Als Brandt infolge der Spionage-Affäre Guillaume zurücktrat, nahm „Günter“ ihm dies übel.
Parteimitglied der SPD wurde Grass erst 1982, im letzten Kanzlerjahr von Helmut Schmidt. Zehn Jahre später trat er wieder aus, die Asylpolitik der Sozialdemokraten erschien ihm als zu hart. Grass wütete gegen die Atomkraft, gegen die Wiedervereinigung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks u. a. m. Kritik, Angriffe, Polemik gegen seine Person ließen ihm Flügel wachsen, er war ein Streitbarer, in literarischen Auseinandersetzungen und gleichwohl in politischen. Grass war ein Citoyen, ein Bürger und Intellektueller, der sich einzumischen pflegte, seine Stimme als Warner und Mahner hatte Macht und Gewicht, weit über Deutschland hinaus. Nach dem Tode von Heinrich Böll, dem großen Moralisten unter den Literaten der Bundesrepublik – der neben und wohl noch vor Grass die gesellschaftliche Instanz schlechthin war –, stand er alleine auf weitem Felde. Seines Ranges war Grass sich bewusst, als er nach dem Tode von Böll vor 30 Jahren meinte: „Nun muss ich, stellvertretend für Böll, auch noch dessen Last für Deutschland tragen!“
Grass wurde in jungen Jahren berühmt. Eine Lesung im Rahmen der „Gruppe 47“, einer Schriftsteller-Vereinigung, die von Hans Werner Richter als „Spiritus rector“ und steter Talente-Förderer präsidiert wurde, öffnete ihm 1958 das Tor zu einer literarischen Weltkarriere. Schon damals waren die Zuhörer von der hoch sinnlichen und suggestiven, eminent bilderreichen Sprache Grass‘, der damals unbekannt war und am Rande des Existenzminimums vegetierte, ebenso beeindruckt wie von seinem rhetorischen Vortragstalent. Die „Blechtrommel“, die im Jahr darauf erschien, geriet zu einem frühen Geniestreich.
Grass hatte Deutschland den Epochenroman der Nachkriegszeit hingeknallt, gewissermaßen aus dem „Nichts“ heraus. Er hatte mit diesem Roman, der in zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurde und sich millionenfach verkauft hat, verschreckt, verstört und verzaubert. Der dreijährige Gnom Oskar Matzerath hatte sich entschieden, aufzuhören zu wachsen, und erzählt als Patient einer Klinik im Rückblick „ebenso hellsichtig und abgefeimt“ („FAZ“) seine Geschichte, die Vor- und Nachkriegszeit, seine Familiengeschichte, die Zeit des „Wiederaufbaus“.
1999, vier Jahrzehnte nach diesem den Nerv der Zeit aufwühlend/kraftvoll berührenden Opus über Verantwortung, Verbrechen und Verschweigen, wurde er – eben dafür – mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Nicht wenige bemühten den Vergleich mit Thomas Mann, der 1929 für seinen Epochenroman „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“ (1901) mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt wurde. Grass verstarb übrigens ganz in der Nähe von Lübeck, seiner „Wahlheimat“ und Heimatstadt von Thomas Mann.
Sich auf dem Gipfel des „Zauberberges“ zu halten, ist freilich schwierig, nachgerade unmöglich. Zwei Jahre nach der „Blechtrommel“ erschien „Katz und Maus“, wiederum zwei Jahre darauf „Hundejahre“. Damit war die „Danziger Trilogie“ abgeschlossen („Ich rieche gern den Mief, aus dem ich komme!“). „Katz und Maus“ geriet, vor allem wegen der „berüchtigten Onanierszene“, zu einem veritablen Skandal. Ein hessischer Minister regte an, das Buch wegen „Unsittlichkeit“ zu indizieren. Dennoch verfestigten diese Werke dem Ruhm von Grass als literarische Ausnahmeerscheinung.
1966 publizierte Grass „Die Plebejer proben den Aufstand“. Dieses hoch erfolgreiche Theaterstück beschäftigte sich mit den Arbeiterunruhen in der DDR 1953. 1969 folgte „örtlich betäubt“. Dieser Roman widmete sich der Studentenbewegung. In „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972) sezierte Grass den Bundestagswahlkampf 1969.
Zu einem großen Erfolg geriet 1977 der Roman „Der Butt“, diesem „abenteuerlichsten Kunstmärchen der deutschen Literatur“ (Heinrich Detering). Seine internationale Reputation wuchs. Die Erzählung „Das Treffen in Telgte“ (1979) – er verarbeitete darin die Treffen der „Gruppe 47“ – lässt Grass im vorletzten Jahr der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden nach dem 30jährigen Krieg spielen. Es ist – auch – ein Buch über Dichterfreundschaften, für manche sein eindrucksvollstes Buch.
Ende der 1980er Jahre erschien „Die Rättin“, ein Prosawerk, ein opulentes Welttheater, welches wie vier andere Arbeiten von Grass verfilmt wurde (so 1979 „die Blechtrommel“ unter der Regie von Volker Schlöndorff).
In „Unkenrufe“ (1992) beschäftigte sich Grass einmal mehr mit der jüngeren Vergangenheit, mit der Versöhnung Deutschland mit den östlichen Nachbarn und der eigenen Vergangenheit.
Drei Jahre später trat Grass mit dem 800 Seiten starken „Wiedervereinigungs“roman „Ein weites Feld“, in dem eine grandiose Fontane-Biographie eingewoben war, in die Öffentlichkeit, einem Panorama deutscher Geschichte, welches bis ins Revolutionsjahr 1848 zurückwies. Von vielen Kritikern wurde das Werk förmlich „zerrissen“, insbesondere vom unerträglich apodiktischen „Kritikerpapst“ Marcel-Reich-Ranicki, auch optisch, auf dem legendären Titelbild des „Spiegel“, sowie im „Literarischen Quartett“ (ZDF). MRR: „Total misslungener Roman!“ Der Großschriftsteller und der Großkritiker sollen danach nie mehr ein Wort miteinander gewechselt haben. Dessen ungeachtet: Das Buch wurde zu einem Bestseller. „Die Schlacht um Literatur wird von den Kritikern verloren“, so der Grass-Biograph Michael Jürgs. Ernsthafte literaturwissenschaftliche Einwände gegen das Werk gingen im Getöse des Feuilletons, das Grass hasste, beinahe unter.
Dies war nun lediglich ein repräsentativer „Ausschnitt“ aus dem Schaffen des „Jahrhundertdichters“, der ein Vorbild u. a. für Irving, Márquez, Kehlmann und Rushdie war, so habe ich „Im Krebsgang“ (2002) oder „Die Box“ (2008) ebenso vernachlässigt wie andere Werke, insbesondere die Lyrik, Sammlungen von Briefen, politischen Reden, Aufsätzen, Tagebüchern und Gesprächen.
Einer besonderen Erwähnung bedarf das autobiographisch gefärbte Opus „Beim Häuten der Zwiebel“, welches 2006 auf den Markt kam. Aus Anlass des Erscheinens dieses Werkes ließ Grass in einem Interview die Öffentlichkeit wissen, dass er in ganz jungen Jahren, mit 17, der Waffen-SS angehört habe, was einen Aufschrei der Entrüstung nach sich zog, teils „berechtigt“, spielte Grass doch Jahrzehnte unermüdlich auf der Klaviatur der hochmoralischen Letztinstanz, teils „unberechtigt“, weil ganz offensichtlich „alte Rechnungen“ beglichen wurden, wie schon zuvor bei „Ein weites Feld“. Grass geriet in die Defensive, zu sehr und zu oft hatte er sich empört, gemahnt, gescholten, gemaßregelt. Nun stand er, er, der alte Mann, selbst am Pranger; „von Grass“, so hieß es, „werde sich wohl niemand mehr die Leviten lesen lassen“, seine moralisierenden Polemiken hätten sich „aus dem Glutkern von verschwiegener Scham und Schuld“ gespeist. „Wer richten will, mag richten“, ließ Grass ausrichten.
Noch einmal, 2012, provozierte Grass mit einer Israel-Polemik. In der „Süddeutschen Zeitung“ hatte er ein Gedicht einschlägigen Inhalts veröffentlich. Israel, so Grass, würde mit seinem Atombomben-Arsenal den Weltfrieden gefährden und habe mit diesem Potential die Möglichkeit, das iranische Volk „auszulöschen“ … Der alte Kraftlackl sparte in seinem „Empörungseifer“ („NZZ“) doch sehr mit Differenzierungen. Eine Welle der Entrüstung brach über ihn uns sein Gelegenheitsgedicht herein …
Nicht zu leugnen ist, dass Grass „einer der letzten engagierten Literaten“ war, ein „Prophet“, ein „homo politicus“, der „in einer längst gewandelten Öffentlichkeit“ wie ein „Dinosaurier“ wirkte („Die Zeit“). Wenn Grass zu politischen Themen präzeptorenhaft seine Stimme erhob, also recht häufig, waren nicht die so genannten „Intellektuellen“, was immer wir unter diesem „Sozialtypus“ zu verstehen geneigt sind, sein anvisiertes Publikum, sondern eine „breite Bevölkerung“. Er verbarrikadierte sich nicht im zu oft zitierten „Elfenbeinturm“, er suchte die Öffentlichkeit, den Diskurs, ja, auch den Streit, breitbeinig und selbstbewusst stand er da und wich nicht zurück, wenn ihn der „Gegenwind“ tosend ummantelte, einmal war er sogar stolz darauf, von „Konservativen“ mit Eiern beworfen zu werden.
Da in Deutschland die Antworten der Sozialdemokratie („ich stand immer irgendwo links der Mitte“) auf die neuen, großen Herausforderungen der Zeit in alten Schablonen eingewurzelt waren und nicht mehr so recht zu überzeugen vermochten, erodierte allmählich auch die hegemoniale Deutungshoheit des schnauzbärtigen Pfeifenrauchers, es wurde ruhiger um den selbst als Greis noch virilen und zornigen Blechtrommler und Magiers der deutschen Sprache.
Ja, Günter Grass, der Inbegriff des engagierten Literaten, der für sich in Anspruch nahm, nationales wie intellektuelles Schwergepäck geschultert zu haben, hatte tatsächlich immer wieder „das Maul aufgemacht“, vielleicht ein paar Mal zu oft, vielleicht ein paar Mal zu laut. Den Widerspruch (?) zwischen Kunst und Moral vermochte freilich selbst er, der große Grass, nicht dauerhaft und glaubwürdig aufzulösen, – Ecce homo –, vor uns steht ein Mann, ein Schriftsteller, aus dessen Werk, Wesen und Wirken die höchste, bis zum Ende ungebrochene Vitalität, olympisch Raum greifende und gleichermaßen aus fester Erdung strömende Leidenschaft atmet, die Leidenschaft für die „res publica“, das Gemeinwesen, für Gerechtigkeit, Solidarität, Menschlichkeit, Freiheit, Bürgerrechte.
Nun ist er ins Grab getanzt, „mit einem Sack Nüsse“, wie er einmal schrieb, und er wollte es „krachen“ hören, wo er liege, dann könne vermutet werden: „Er ist das,/immer noch er.“ Günter Grass verstarb vor wenigen Tagen im Alter von 87 Jahren.
Kleine Videoauswahl. Wir danken dem Wiener/Gmundner Autor Michael Amon für die Auswahl.
Günter Grass: „Was bleibt?“
Denis Scheck mit Günter Grass zu „Grimms Wörter“
Günter Grass: Was man von Camus lernen kann
Da Christian Dickinger in seinem Nachruf auch Fritz J. Raddatz erwähnt hat, hier der Link auf ein Interview, das nun im nachhinein – im Wissen um den Freitod von Raddatz – in einem anderen Licht gesehen werden kann/muss. Raddatz hat in seiner Zeit als Cheflektor bei Rowohlt die grossen internationalen Autoren wie James Baldwin dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht und die Paperback-Reihe rororo-aktuell „erfunden“ und herausgegeben. Eine Reihe, die gemeinsam mit der „edition Suhrkamp“ über viele Jahrzehnte den Diskurs im deutschsprachigen Raum geprägt hat.
Danke Christian Dickinger für diesen wirklich gut gelungen Nachruf.
Danke Michael Amon für die Auswahl der Videos.
Liebe Gmundl-Community, bitte nehmt euch die Zeit, unbedingt ansehen! Das Fritz J. Raddatz-Interview fand ich erschütternd. Er hat eigentlich alles gesagt, und keiner hat die tiefere Bedeutung des Gesagten geahnt: Fritz J. Raddatz hatte bereits zum Zeitpunkt des Interviews seinen Todestag festgesetzt (Termin, Nachlassregelung, etc.). Er selbst war bis zuletzt – von kleinen Wehwehchens des Alters mal abgesehen – pumperlgsund.
Es gibt übrigens eine wunderbare Hör-CD der Blechtrommel, es liest der Autor. Insgesamt 23 CDs. Sehr gut geeignet, wenn man Literatur hören will, z.B. beim Autofahren. Oder entspannt auf der Terrasse oder im Garten mit einem Gläschen Wein und geschlossenen Augen. Günther Grass liest wunderbar!
Ramona