Heute:
Babsy Blitzschnell ganz kurz
GK von Michael Amon: Systemisches Gesamtversagen
Liebe Leserleins!
Wie versprochen heute ein Gastkommentar von Michael Amon rund um die Flüchtlingskrise. Er nennt es einen Essay, also einen Versuch. Mehr als ein Versuch ist zu diesem Thema in diesen Tagen wohl wirklich nicht möglich.
Wir wünschen einen schönen Sonntag!
Babsy Blitzschnell f. d. Team Gmundl
Systemisches Gesamtversagen
Ein Essay
Gastkommentar von Michael Amon
Wie so oft in der europäischen Geschichte stehen am Beginn einer Krise meist Regeln und Verträge, die entweder im Rahmen fauler Kompromisse geschlossen oder nur unzureichend zu Ende gedacht worden sind. Mitunter war es auch politischer Zynismus und die Hoffnung, es werde schon gut gehen. Zur letzten Kategorie zählen jene Vereinbarungen, mit denen die EU vorgab, den Zustrom von Flüchtlingen »managen« zu können, also Schengen und Dublin. Beides Regelungen, bei denen von Beginn an klar war, daß sie im Krisenfall zu nichts taugen würden.
Daß die Überwachung der Schengen-Außengrenzen eine Illusion ist und niemals klappen wird, davor warnten von Beginn an viele Experten. Sie behielten recht. Der Zynismus bestand darin, daß die Binnenländer ohne Schengen-Außengrenze meinten, dank der Dublin-Regeln nie mit Flüchtlingen konfrontiert zu sein. Man lehnte sich gemütlich zurück, denn den Schwarzen Peter hatte die anderen, vor allem Italien und Griechenland. Man gab sich der Illusion hin, diese Länder würden einem die Flüchtlinge vom Hals halten. Entsprechend verzichtete man sowohl darauf, in den einzelnen Ländern für entsprechende Krisen vorzusorgen, als auch darauf, rechtzeitig (also bevor eine Krise da ist) einen europäischen Verteilungsschlüssel und einen finanziellen Ausgleichsmechanismus festzulegen. Damit war der Grundstein für die jetzigen Probleme gelegt.
Nun muß man dazu sagen, daß die »Vier Freiheiten der EU« (warum erinnert dieser Begriff einen an Sprachregelungen aus dem maoistischen China?) keineswegs universelle Freiheiten sind, sondern Freiheiten der Krämerseelen. Die Reisefreiheit ist in Wahrheit ein bewußt falsch gewählter Begriff, denn Grenzkontrollen und Reisefreiheit schließen einander ja nicht aus. Worum es geht ist etwas ganz Anderes: die Reisefreiheit der Ware Arbeitskraft. Man schuf sich damit eine frei durch Europa vagabundierende industrielle Reservearmee, die vor allem eine Aufgabe hat: Lohndrückerei und Unterminierung der Sozialstandards. Nicht umsonst sind Sozialfragen nicht Gegenstand der EU-Verträge. Es gibt keine Sozialunion. Die Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums ändert ja nichts an der Reisefreiheit, aber sie wäre ein schwerer Schlag für das ökologisch und gesamtwirtschaftlich schädliche Modell der Just-in-Time-Zulieferung der Industrie. Erst durch diese wurde es möglich, die Produktion auf ganz Europa aufzuteilen. Ganz Europa? Natürlich nicht, sondern auf die Billigstlohnländer der Osterweiterung. Dieses Modell wird durch Grenzkontrollen enorm schwierig und deutlich teurer. Man muß das nicht bejammern, denn die Folge wären zwar unmittelbar Mehrkosten, aber auch eine mittelfristige Re-Industrialisierung Westeuropas. Außerdem wäre ein Ende des LKW-Wahnsinns etwa am Brenner (derzeit fast zwei Millionen LKWs und Sattelschlepper pro Jahr) sicher kein Schaden – weder für die Umwelt noch für die Volkswirtschaft insgesamt.
Das geht natürlich gegen die Interessen der Großindustrie und jener Finanzkonglomerate, in deren Besitz sie steht, und deren einziges Ziel rücksichtslose Gewinnmaximierung ist. Denn die durch diese Konstruktion ermöglichten Profite kamen nicht der breiten Mehrheit der Bevölkerung zugute (das beweisen die seit zwanzig Jahren stagnierenden oder in manchen Bereichen sogar sinkenden Masseneinkommen), sondern fast ausschließlich den internationalen Konzernen, die diese Gewinne noch dazu fast steuerfrei einstreifen durften, während die heimischen KMUs unter der Steuerlast ächzen.
Aber zurück zur Frage der Flüchtlinge. Wie gesagt: die heutigen Probleme resultieren aus den Verträgen der EU, aus der Verfaßtheit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten und dem Unwillen, daran etwas zu ändern. Denn niemand wird ernsthaft behaupten können, es sei bei gutem Management nicht möglich, daß fünfhundert Millionen Europäer fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen und versorgen. Auch mit dem Widerstand der Bevölkerung ist das so eine Sache. Es zeigt sich, daß dort, wo keine Massenquartiere entstehen, das Zusammenleben nicht schlechter funktioniert als das zwischen »Einheimischen«; daß sich örtliche Initiativen bilden, die sich um die Flüchtlinge und ihre Betreuung kümmern. Natürlich gibt es einen Bodensatz von zehn oder fünfzehnt Prozent der Bevölkerung, der mit seinen Vorurteilen nicht zu Rande kommt und die Internet-Foren mit Haß und Hetze flutet. (Der Osten Deutschlands mal ausgenommen. Vor allem Sachsen ist ein sehr spezielles Problem und ist eine Spätfolge der DDR-Vergangenheit und der Art der Wiedervereinigung.) Dort aber, wo das Augenmaß gewährt bleibt, und die Flüchtlinge in überschaubaren Einheiten leben, sind die Probleme kaum größer als zwischen den Inländern (man vergesse nie: der größte Teil aller zivilgerichtlichen Verfahren betrifft Streitigkeiten unter Nachbarn!).
Noch immer aber gibt man sich in der EU der Illusion hin, man könne die Flüchtlingsfrage mittels einfacher Lösungen bewältigen. Die Idee, ausgerechnet die Türkei dafür einzusetzen, uns die Flüchtlinge vom Hals zu halten, ist abwegig. Sich in die Abhängigkeit eines Mannes, nämlich Herrn Erdogan, zu begeben, der gerade dabei ist, einen Völkermord im eigenen Land zu organisieren, ist nicht nur Wahnsinn, sondern auch ein Verrat an den oft beschworenen europäischen Werten. Wobei man leicht vorhersagen kann, daß Erdogan uns zwar vielleicht das Geld aber sicher nicht die Flüchtlinge abnehmen wird. Gleichzeitig ist allen klar, daß eine europaweite Aufteilung der Asylanten nicht kommen wird. Ob die Drohung mit dem Entzug der EU-Gelder für unwillige Mitglieder daran etwas ändert, darf bezweifelt werden.
Die Frage, ob die österreichischen Maßnahmen nun EU-konform sind, der Genfer Konvention oder den Menschenrechten entsprechen, ist eine rechtsstaatlich zwar wichtige Frage, aber praktisch nicht von Relevanz. Wenn Regeln nicht lebbar sind, dann haben sie sich selbst überholt. Schengen in der Kombination mit Dublin kann eben nicht funktionieren. Gleichzeitig wird auch der Versuch, die Flüchtlinge mittels Grenzzäunen fernzuhalten, nur dann klappen, wenn der Flüchtlingsstrom stark zurückgeht. Das wiederum setzt voraus, daß die Kampfhandlungen in Syrien wirklich beendet werden. Solange aber der IS sein Unwesen treibt, wird es Kriegshandlungen und damit eine flüchtende Zivilbevölkerung geben.
Wie stellt man sich das mit den Zäunen denn praktisch vor? Will man an den Grenzen auf Flüchtlinge schießen, sobald diese versuchen, die Zäune zu stürmen? In diesem Kugelhagel wird auch das ohnehin wackelige Gerüst der europäischen Werte in sich zusammenbrechen. Die österreichische Regierung glaubt offenbar, das Problem auf Griechenland (und in Folge auf Italien) abschieben zu können. Mikl-Leitner lebt ja allem Anschein nach in dem Glauben, sie wisse wie es geht und wollte sogar nach Griechenland aufbrechen, um dort in alter Kolonialherren-Manier den faulen Südländern zu erklären, wie es geht. Die Frau Minister verwechselt offenkundig das Mittelmeer mit ihrer Badewanne.
Daß Außenminister Kurz ebenso offenkundig keine Ahnung vom Wesen der Diplomatie hat, wundert einen ohnehin nicht. Außenpolitisch hat er bewiesen, daß seine Politik eine der provinziellen Schnöselhaftigkeit ist. Das Wesen der Diplomatie ist es, miteinander im Gespräch zu bleiben, nicht zu erklären, daß es keinen Sinn habe, mit den Griechen zu reden. Ein Außenminister, der solches von sich gibt, gehört mit einem Fußtritt aus dem Amt befördert. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Mikl-Leitner und Kurz machen Innenpolitik; eine Innenpolitik, die nur auf einem Axiom beruht: der Angst vor der FPÖ. Nach dem Motto »Rette sich, wer kann!« wird dilettantisch vor sich hin geholzt, egal welche Schäden man damit anrichtet. Aber eines muß man der ÖVP-Riege lassen: sie hat es geschafft, die labile EU-Politk weiter zu destabilisieren – und dazu auch gleich in einem Aufwasch den ganzen Balkan.
Die Berufung auf die Genfer Konvention hat bei diesem Flüchtlingsansturm wenig Sinn. Die GK ist nicht für eine Massenflucht gedacht, sondern stellt immer auf den Einzelfall ab. Der Einzelne muß konkret seine Verfolgung und Gefährdung beweisen. Daß man dann bei großen Wanderungen recht schnell an Grenzen stößt, leuchtet ein. Auch die versuchte Unterscheidung in Wirtschafts- und echte Flüchtlinge ist zum Scheitern verurteilt. Wer kann das an der Grenze schon feststellen? Und wo ist bei Kriegsflüchtlingen diese Grenze überhaupt zu ziehen? Auch der Trick mit den sicheren Drittstaaten ist bloß eine Augenauswischerei und über alle Maßen zynisch. Marokko ist kein sicherer Drittstaat. Und auch Griechenland ist nach einem EuGH-Erkenntnis kein solcher. Österreich dürfte also gar keine Flüchtlinge nach Griechenland zurückschicken.
Die Idee von Frau Mikl-Leitern, die Griechen mögen die Flüchtlinge aus dem Meer fischen und an den türkischen Stränden wieder ausladen, ist, man muß es so sagen, bescheuert. Wie kenntnislos darf eine Ministerin eigentlich sein? Die Griechen müßten für diesen Fall in die türkischen Hoheitsgewässer eindringen. Was, NATO-Mitgliedschaft beider Länder hin oder her, sofort zu einem militärischen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei führen würde. Einem militärischen Konflikt, dem Erdogan wohl mit großer Freude nicht aus dem Weg gehen würde. Man muß es in dieser Klarheit sagen: die dummen Vorschläge von Frau Mikl-Leitner führen direkt in eine militärische Auseinandersetzung zwischen den »Erzfeinden« rund um die Ägäis.
Wie die SPÖ diesem Trauerspiel tatenlos zusieht und dann auch noch durch Kanzler Faymann zum »nationalen Schulterschluß« aufruft, kann der konsternierte Beobachter nur noch mit Kopfschütteln kommentieren. Man hat zwei völlig durchgeknallten ÖVP-Ministern das Feld überlassen und wirft die letzten Reste von politischem Anstand über Bord. Der Schaden für Österreich und Europa ist unermeßlich. Man ahnt, wie Europa einst in den Ersten Weltkrieg getaumelt ist – in einer Kombination aus Dummheit und Arroganz gemischt mit nationalistischen Vorurteilen und chauvinistischem Gebrüll.
Es gibt keine einfache Lösung der Flüchtlingsfrage. Es wird, so sieht es derzeit aus, auch keine europäische Lösung geben. Die Balkan-Lösung der österreichischen Regierung wird sich ebenfalls schon bald als Nichtlösung erweisen. Daß die ÖVP noch dazu auf einen Kurs eingeschwenkt ist, der darin besteht, auf der Klaviatur der schlimmsten Ressentiments zu klimpern, verschärft die Probleme (wird aber der ÖVP nicht den erwünschten innenpolitischen Erfolg bringen).
Man hat zulange verabsäumt, die Bevölkerung auf die neuen Flüchtlingswellen vorzubereiten. Aber jetzt ist es zu spät. Wir leben in einer Zeit des systemischen Gesamtversagens auf allen Ebenen. Daher besteht ein Teil des Problems auch darin, daß die Menschen kein Vertrauen mehr in die Regierungen haben. Dieses wurde in den letzten zwanzig Jahren systematisch verspielt. Eine Politik, die zynisch Modernisierungsgewinner und -verlierer unterscheidet und in Kauf nimmt, darf sich nicht wundern, wenn Rechtsextremisten aller Schattierungen im Aufwind sind. Wobei auch die Wählerschaft nicht aus der Verantwortung (die man naturgemäß leider nirgendwo einklagen kann) entlassen werden darf. Einfach nur aus Wut, Enttäuschung, blankem Haß oder sonstigen atavistischen Gefühlen sein Kreuzerl irgendwohin zu machen, ist auch keine kluge oder gar verantwortungsvolle Haltung.
Aus heutiger Sicht kann man die weitere Entwicklung nur sehr pessimistisch beurteilen. Für die EU hat die Stunde der Wahrheit geschlagen. Sie steht vor dem Offenbarungseid. Und sie wird ihn leisten. Die Flüchtlingsströme werden anhalten, solange im arabischen Raum keine neue politische Ordnung gefunden worden ist. Europa wird, ob es will oder nicht, in den nächsten Jahren einige Millionen Flüchtlinge unterbringen müssen, denn ein paar Millionen Leute kann man nicht mit Waffengewalt aufhalten – außer man ist bereit, ein Blutbad anzurichten. Damit würde sich aber das Friedensprojekt Europa erst recht selbst zerstören. Nicht anders wäre es auch, würde man auf ein »Ausbluten« des Konflikts warten. Dann hätte man beides: enorme Flüchtlingsströme und ein Blutbad.
Eigentlich hatte Merkel die richtige Losung ausgegeben: Wir schaffen das. Sie ist nicht daran gescheitert, daß dieser Satz falsch ist. Sie ist an den nationalen Egoismen und den Ängsten (und den geschürten Ängsten) der Menschen gescheitert. Zulange hat mein ein Europa des persönlichen Vorteils gepredigt (Ederer-Tausender), anstatt ein europäisches Bewußtsein zu schaffen. Über eine teilweise recht primitive Eventkultur à la »europäische Kulturhauptstadt« ist man nicht hinausgekommen. Das aber war reine Spektakelkultur jenseits der Werte der Aufklärung, auf denen Europa eigentlich basieren sollte. Wer einem Affen immerzu Peanuts zuwirft, darf sich nicht wundern, wenn der immer nach Peanuts verlangt oder Angst um seine Tagesration hat, sobald weitere hungrige Mäuler auftauchen. Dann ist es schwer, diesem Primaten klar zu machen, daß ohnehin genug Peanuts da sind. Und Primaten sind wir nun mal alle.
Eines sollte man ohnehin nicht vergessen: was sich derzeit auf der Balkanroute und im Mittelmeer abspielt, ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Ereignisse der kommenden Jahrzehnte, falls die Klimavorhersagen sich als ebenso wahr erweisen sollten, wie die prognostizierte Bevölkerungszunahme in Schwarzafrika. Es wird Zeit, sich den wirklichen Ursachen der zunehmenden Disparität der Welt zu widmen. Aber wer sollte das tun? Die Mikl-Leitner? Der Kurz? Der Faymann? Der Juncker? Da bleibt nur die Hoffnung, denn die stirbt bekanntermaßen zuletzt. Aber sie stirbt.
Es ist nicht leicht, in diesen Tagen Optimist zu bleiben.
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