Mogelpackung

Heute:
Gastkommentar von Michael Amon
zum Pakt der EU mit der Türkei

Liebe Leserleins!

Wir sind aus technischen Gründen heute etwas später online. Dafür finden Sie, liebe Leserleins, heute einen hoffentlich auch für Sie hochinteressanten Kommentar von Michael Amon. Wir wünschen einige Momente der Erkenntnis – Ihnen und uns!

Babsy Blitzschnell f. d. Team Gmundl


EU-Sackgassen, Zielkonflikte und eine Mogelpackung

Gastkommentar von Michael Amon

Auch wenn die Situation komplex und in all ihren Aspekten schwer überschaubar ist, so läßt sich ein Résumé vorab ziehen: der Flüchtlings-Pakt der EU mit der Türkei ist eine Mogelpackung. Er löst die Probleme nicht und ist bloß ein ungedeckter Scheck auf eine herbeigesehnte Zukunft. Gleichzeitig kann man nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, daß die Linie von Angela Merkel sich gegen jene der österreichischen Regierung und einiger Balkanländer durchgesetzt hat. Nicht Dichtmachen der Grenzen ist das Konzept Merkels, sondern Regelung und Kanalisierung der Fluchtbewegungen, rechtsstaatliche Abwicklung und eine europäische anstatt der von Österreich in völliger Verkennung der Realitäten angestrebten nationalen Lösungen. Dieser Pakt ist der verzweifelte Versuch, die europäischen Prinzipien offiziell zu wahren und unter der Hand ihre Beschädigung in Kauf zu nehmen. Was immer manche österreichische Boulevardzeitungen und ein kraftmeiernder Faymann behaupten: Frau Merkel hat die Regeln dieser Vereinbarung vorgegeben und durchgesetzt. Die nationalistische Linie und Faymann sind sang- und klanglos untergegangen. Faymann wird einen weiteren Umdeutungsversuch starten, was ihm aber letztlich nichts nützen wird. Seine Glaubwürdigkeit, soweit sie noch vorhanden ist, erodiert weiter. Merkel setzt mit ihrem Kurs vernünftigerweise darauf, daß die Lösung der Probleme kurzfristig nicht zu haben ist, nimmt aber heimlich, still und leise einen teilweisen Bruch europäischer Grundwerte in Kauf.

Warum ist das nun präsentierte Paket trotzdem eine Mogelpackung? Dazu muß man sich die Abmachungen im Detail ansehen. Denn dort lauern wie so oft die eigentlichen Fallstricke. So tritt bereits heute, Sonntag, 20. 3., die Regelung in Kraft, daß irregulär nach Griecheland gelangte Flüchtlinge zurückgeschickt und von der Türkei übernommen werden müssen. Wer also ab heute illegal auf einer griechischen Insel anlandet, wird von den neuen Regeln bereits erfaßt. Die Rückschickung selbst soll am 4. April starten. Unklar bleibt, ob das klappen kann. Denn die Hotspots in Griechenland funktionieren noch immer nicht, und die EU-Kommission gibt zu, daß für die Umsetzung dieser Vereinbarung rund 4.000 Beamte zusätzlich vor Ort in Griechenland notwendig sind. Wie also die Erfassung und Rückführung innerhalb weniger Tage zum Funktionieren gebracht werden kann, bleibt rätselhaft.

Jeder Asylantrag muß aus rechtsstaatlichen Gründen einzeln überprüft werden. Das Abkommen hält ausdrücklich fest, daß es keine »kollektiven Ausweisungen« geben wird. Damit sind auch all die rechtswidrigen Ideen (vor allem Österreichs) von Obergrenzen gescheitert und nicht offizielle EU-Politik geworden. Wer nachweisen kann, daß er in der Türkei nicht sicher ist (z. B. syrische Kurden), hat Recht auf Schutz in der EU. Des weiteren hat die Türkei sich verpflichtet, alle zurückgeschobenen Flüchtlinge streng nach den Regeln der Genfer Konvention zu behandeln. Daß Letzteres tatsächlich geschehen wird, wird von Experten nachdrücklich bezweifelt, während Merkel behauptet, die Türkei sei hier schon ziemlich weit mit der Umsetzung.

Für jeden in die Türkei zurückgewiesenen Syrer übernimmt die EU einen Syrer, der legal in der Türkei ist und führt ihn einem legalen Asylverfahren innerhalb der EU zu. Dafür stehen vorerst 18.000 Plätze zur Verfügung. Das ist nicht neu, denn schon bisher gab es diese Plätze in Summe für die Syrien-Anrainerstaaten wie Libanon, Jordanien oder die Türkei. Dazu kommen wie bisher auch weitere 4.000 Reserveplätze. Diese Vereinbarung wurde trotz ihres Bestehens bisher nicht gehandhabt. Das soll sich angeblich ab 4. April schlagartig ändern. Sobald 22.000 Personen »ausgetauscht« sind (mehr als ein Austausch illegal gegen legal Eingereiste ist es nicht), tritt ein Kontigent von weiteren 54.000 Personen in Kraft (auch dieses Kontingent gibt es in Wahrheit schon seit 2015). In Summe also werden von diesem Austauschmechanismus 76.000 Menschen erfaßt werden können. Wenn dieses Limit erreicht wird, endet der Automatismus automatisch.
Die Aufnahme der ausgetauschten Flüchtlinge aus der Türkei ist für die EU-Mitgliedsländer freiwillig, es gibt keine Verteilungsquote. Es wird damit gerechnet, daß die Zahl von 76.000 Leuten spätestens im Frühsommer erreicht wird. Was dann geschieht, wenn der Flüchtlingsstrom in der Ägäis weitergeht, weiß heute niemand. Die EU wiegt sich in der vagen Hoffnung, daß die Maßnahme so abschreckend ist, daß der illegale Zustrom abreißt. Ebenso unklar ist, welche Länder sich an der Aufnahme der Flüchtlinge aus der Türkei beteiligen werden. Faymann hat bereits erklärt, Österreich werde anderen den Vortritt überlassen. Man kann annehmen, daß es auch bei den anderen EU-Ländern keine Drängelei geben wird. Es bleibt also die Frage, ob die EU überhaupt die Übernahme dieser 76.000 Menschen realisieren kann. Möglich, daß alle in Deutschland landen. Dazu kommt, daß diese Vereinbarung voraussetzt, daß die Türkei ein sicherer Drittstaat ist. Das ist natürlich eine sehr kühne Annahme, die wahrscheinlich vor dem EuGH keinen Bestand haben wird. Man biegt sich hier den Status der Türkei zurecht, ein schwerer Anschlag auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Innerhalb von 36 Stunden muß Griechenland jetzt ein äußerst wirksames Asylverfahrenssystem auf den unzähligen, verstreuten und entlegenen Inseln in der Ägäis auf die Beine stellen. Es hat schon seit Monaten nicht geklappt, auf den Inseln effiziente Hotspots einzurichten. Warum das jetzt innerhalb weniger Stunden funktionieren sollte, kann niemand erklären. Angeblich stehen aber schon Mitarbeiter des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Tastatur bei Fuß, um vor Ort in Griechenland Unterstützung zu leisten. Ob die innerhalb von 36 Stunden einsatzbereit sind und ebenfalls innerhalb dieser 36 Stunden die nötigen Maßnahmen und Abläufe implementieren können, darf man mit gutem Grund bezweifeln.

Die bereits seit längerem zugesagten drei Milliarden EU-Hilfe für Flüchtlingsprojekte in der Türkei wurden erneut festgeschrieben und sollen jetzt endlich fließen. Dazu hat die EU sich zur Zahlung weiterer drei Milliarden bis 2018 verpflichtet. Schon bisher gelang es der EU nicht, die ersten drei Milliarden »aufzustellen«. Welche Länder jetzt die Spendierhosen für insgesamt sechs Milliarden anziehen werden, ist völlig unklar. Warum die Länder, die sich bisher geweigert haben, Zahlungen zu leisten, das jetzt tun sollten, weiß wahrscheinlich nicht einmal die EU-Kommission. Oder kommen ein paar hundert Millionen aus umzuschichtenden Budgetmitteln der EU, und muß für den Rest Deutschland in die Geldlade greifen?

Die folgenden zwei Vereinbarungen sind unter dem Aspekt, daß sie Erdogan bei seinem Weg zur Präsidial-Diktatur Hilfestellung leisten, besonders problematisch. Einerseits die Erweiterung der EU-Beitrittsverhandlungen um zwei weitere Kapitel (die Türkei hat fünf gefordert). Dazu die Visafreiheit für die Türkei. Zwar wurden schon bisher rund fünfundachtzig Prozent der Visaansuchen genehmigt, aber es ist ein Prestigeerfolg für Erdogan, weil die türkische Bevölkerung damit leichter Verwandtenbesuche in Europa unternehmen kann. Beide Maßnahmen könnten dazu führen, daß Erdogan jene paar Prozent zusätzliche Zustimmung bekommt, die er braucht, um den Umbau der Türkei in eine totalitäre Republik zu vollenden. Dazu kommt, daß Erdogan einen Ausrottungskrieg gegen die Kurden führt. Kurden mit türkischer Staatsbürgerschaft wird mit der Visafreiheit die Flucht nach Europa ermöglicht. Wenn Erdogan seinen Kriegszug nicht einstellt, werden schon bald statt der Syrer Hunderttausende Kurden auf dem Weg nach Europa sein. Sind wir darauf vorbereitet?

Was sind die Haken an diesem Abkommen zuerst einmal aus rein technischer Sicht? Da ist vor allem das fragwürdige Tauschsystem. Die Türkei hat es in der Hand, zu steuern, wie viele Flüchtlinge in die Ägäis »ablegen« können. Denn der Stop der Flüchtlinge kann realistisch nicht in der Ägäis erfolgen. Dort kann man die Leute nur noch vor dem Absaufen retten. Die Türkei muß vielmehr in den Binnenstädten, wo die Überfahrten ausgehandelt werden, konsequent gegen die Schlepper vorgehen. Gleichzeitig muß die Türkei die Hauptrouten auf dem Festland Richtung Küste engmaschig kontrollieren, damit die Leute erst gar nicht in die Ägäis kommen. Wenn die Türkei weitere Flüchtlinge »anbringen« will, muß sie nur die EU durch lasche Kontrollen innerhalb der Türkei mit einem weiterem Zustrom von Flüchtlingen über die Ägäis unter Druck setzen. Das Kontingent von 76.000 wird ohnehin spätestens im Frühsommer ausgeschöpft sein. Da anzunehmen ist, daß die EU-Mitglieder sich auch in Hinkunft nicht auf die Verteilung von Flüchtlingen einigen werden, kann die Türkei durch Erhöhung des Flüchtlingsstroms die EU jederzeit erpressen. Die weiß nämlich schon heute nicht, wohin sie schon die nur 76.000 Leute bringen soll. Vielmehr hofft die EU, daß durch diesen Vertrag die Zahl der Flüchtlinge so deutlich zurückgeht, daß man über die Verteilung nicht mehr sprechen muß.
Eine extrem trügerische Hoffnung, die von den bisherigen Ereignissen nicht gestützt wird. Man muß davon ausgehen, daß das Abkommen an genau diesem Problem scheitern wird.
Worüber dieses Abkommen ebenfalls hinwegtäuscht: die Flüchtlingsströme werden sich nur verlagern. Und: es gibt nicht nur das Syrienproblem. Der Emigrationsdruck in Schwarzafrika steigt extrem. In Summe bedeutet das ein Umlenken der Flüchtlingsrouten in Richtung Mittelmeer/Adria. Dort ist man derzeit bereits mit rund vierzig Flüchtlingsbooten/-schiffen pro Tag konfrontiert, denen sieben Nato-Schiffe zur Grenzsicherung entgegen stehen. Um die Mittelmeerroute zu schließen, müßten NATO und USA enorme Flottenkapazitäten bereitstellen, die zum Teil gar nicht vorhanden sind und gleichzeitig anderswo empfindlich fehlen würden (etwa im ost-chinesischen Meer und im pazifischen Raum insgesamt).

Ein eigener Fragenkreis ist die Problematik, sich als EU mit solchen Verträgen von einem Regime abhängig zu machen, das in keiner Weise europäischen Standards in Fragen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte entspricht. Auch wenn innerhalb der EU einige Staaten wie Polen oder Ungarn ebenfalls bereits in diese Richtung abdriften, auch wenn Länder wie Bulgarien oder Rumänien, aber auch die baltischen Staaten diesbezüglich nicht gerade Musterländer sind (und in der EU eigentlich nichts zu suchen haben), auch wenn man das alles mit einbezieht in die Überlegungen, dann ist dieser Vertrag ein Sündenfall. Die Weiterführung der Beitrittsverhandlungen zur EU sind nicht der Kern des Problems. Denn es wird in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren keinen EU-Beitritt der Türkei geben, und wie die EU dann aussieht, kann heute niemand vernünftig vorhersagen. Die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört oder nicht, ist insofern eine fiktive. Die Tatsache ist, daß es auch kein strategisches Interesse an einem Beitritt der Türkei gibt – das würde nämlich heißen, die EU in eines der krisenhaftesten Gebiete der Welt hinein auszuweiten. Brüssel wäre aufeinmal direkt Beteiligter in allen Konflikten des Nahen Ostens. Dafür ist die EU weder militärisch noch politisch gerüstet – und es ist auch nichts wünschenswert, daß sie das ist.

Durch ihre jahrelange Untätigkeit und die von Beginn an irrealen Dublin-Vereinbarungen, durch die Unfähigkeit, die Grenzen des Schengenraums wirklich zu sichern, hat die EU sich in eine Situation manövriert, in der sie keine praktische Alternative dazu hat, sich mit der Türkei und dem Regime Erdogan zu arrangieren. Der Sündenfall ist nicht der jetzige Vertrag, sondern die Sünde wurde mit der jahrelangen Politik des Ignorierens der echten Probleme begangen; mit Regelungen, die für Schönwetter und ein paar tausend Flüchtlinge taugten, nicht aber für den Umgang mit einer Krisenregion vor der Haustür, in der Dutzende Millionen von Menschen auf der Flucht sind.

Bis heute hat die EU auch die bestehenden Zielkonflikte nicht erörtert und einer den Werten der EU entsprechenden Klärung zugeführt. Denn daß es in Fragen der Erhaltung der Sozialstaates, der Rechtsstaatlichkeit, der Sicherung der Menschenrechte und der Flüchtlingsproblematik einander widersprechende Prioritäten und Ziele gibt, liegt auf der Hand. Diese Diskussion ist bis heute nicht geführt worden. Für welche Werte steht die EU heute denn noch wirklich? Weder für Christlichkeit, noch für Solidarität, Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie, wenn sie sich dem Erdogan-Regime ausliefert. Stattdessen reagiert man panisch auf die Verunsicherung der Bevölkerung und die damit einhergehende Demagogie radikalisierender Gruppen und Parteien. Die österreichische Regierung, geführt von Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten, hat auf die Krise mit Nationalismus, De-facto-Beschädigung der Genfer Konvention und mit einer Relativierung des Rechtsstaates durch Verstoß gegen die Schengen-Regeln geantwortet und damit der europäischen Sache einen Bärendienst erwiesen.

Daß diese Regierung dabei auch noch mit Ländern kooperiert hat, die auf dem Weg zu autokratischen Regierungsformen sind, ist umso schändlicher und auch durch platte Propagandasprüche nicht zu übertünchen. Es sind die Fundamente des europäischen Rechtsstaates, die hier in Frage gestellt werden. Das bleibt nicht ohne Folgen für die anderen Bestandteile eines modernen, aufgeklärten Staatswesens. So wie man ein Schiff nicht retten kann, indem man es beim Herannahen eines Orkans versenkt, so wenig kann man die so oft beschworenen europäischen Werte retten, indem man sie bei schwerer See schnell mal über Bord wirft. Der Konflikt zwischen Werten und Möglichkeiten müßte viel ernsthafter diskutiert werden. Das aber findet nicht statt. Kein Wunder, wenn man sich die intellektuellen Fähigkeiten mancher Akteure auf dem Parket der europäischen Politik so ansieht.

Obwohl man sich über Eines nicht hinwegtäuschen sollte: die reine Lehre gibt es nicht, die kann niemand leben außer ein paar Heiligen. Man sollte sich diesen Widerspruch aber täglich klar machen, sonst geht der Blick aufs große Ganze schnell verloren – und damit all das, was wir als europäische Werte zu verstehen meinen.

Es gilt, was schon Jean-Paul Sartre einst schrieb: »Die Unschuld ist eine den menschlichen Gesellschaften besonders teure Form der Ignoranz.« Ganz ohne Sündenfall kommt keiner von uns aus dem Leben heraus. Das sollte uns aber nicht blind machen für das, was idealerweise zu tun wäre. Auch wenn wir dieses Ideal nie ganz erreichen werden.


 

 

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